"Die Biographen sollen sich plagen . . ."

Helmut Schmidt als einjähriges Baby
Helmut Schmidt als einjähriges Baby(c) imago/Sven Simon Helmut Schmidt
  • Drucken

Sie zählen zu den absoluten Verkaufsschlagern auf dem Buchmarkt: Biografien. Auch Sigmund Freud las sie gern, obwohl er von Biografen gar nichts hielt. Warum wir viele Stunden und Seiten mit dem Leben anderer verbringen und glauben, dabei der Wahrheit näherzukommen.

Biografien und Autobiografien erfreuen sich bei den Lesern heute größter Popularität. Schon ein Blick auf meterlange Regale in den Buchhandlungen, die mit Lebensgeschichten von Diktatoren, Dichtern, Denkern, Diven und Dilettanten gefüllt sind, bezeugen die Biografie-Begeisterung unserer Zeit. Wer Zweifel hat, kann bei Amazon Restbedenken ausräumen: Unter den Büchern zählen dort Biografien – neben Krimis – zu den absoluten Bestsellern für Erwachsene. Wenig überraschend ist nur wenige Tage nach seinem Tod die Autobiografie des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt „Was ich noch sagen wollte“ ganz oben auf der Liste zu finden. Walter Isaacsons autorisierte Biografie über Steve Jobs zählt seit 2011 zu den Dauerbrennern. Auch die Erinnerungen des schwedischen Fußballers Zlatan Ibrahimović „Ich bin Zlatan. Meine Geschichte“ oder die Biografie der deutschen Schlagersängerin Helene Fischer werden stark nachgefragt.

Doch was reizt uns so an Biografien? Was fasziniert uns am Leben eines anderen so sehr, dass wir viele Stunden und Seiten lang in seine Seele hineinkriechen? Christina Knecht, Pressesprecherin des Hanser Literaturverlages, gibt eine Antwort: „Die Biografie schafft es auf ganz eigene Art, nicht nur dem Biografierten, sondern dem ganzen Zeitalter, in dem er gelebt hat, nahezukommen. Unser Verlag pflegt dieses Genre auch deshalb sehr intensiv.“ Keine Frage, wer Rüdiger Safranskis Werk über Johann Wolfgang von Goethe gelesen hat, weiß nicht nur, weshalb der Dichter die „Leiden des jungen Werther“ geschrieben hat, sondern bekommt gleichzeitig ein Gespür für die Weimarer Klassik.


Neubürgerliche Kunstform. Wilhelm Hemecker, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Theorie der Biografie, ergänzt Knechts These: „Die Biografie ist eine neubürgerliche Kunstform. Die Großbürger des 19. Jahrhunderts sind noch ins Theater gegangen und haben sich mit den Stücken befasst. Die nächste, die neureiche Schicht, die will ein bisschen mitreden, aber sich nicht der harten Mühe unterziehen, etwa die Werke Goethes zu lesen und durchzudenken. Aber sie wollen dennoch über Goethe reden können. Das kann man auch, wenn man ,nur‘ Safranskis Goethe-Biografie gelesen hat.“

Doch die Biografie befriedigt noch andere Sehnsüchte: „Die Menschen, junge wie alte, wollen Vorbilder, sie haben Idole, und sie haben das Bedürfnis nach Verehrung. Man will sein eigenes bescheidenes Leben bespiegeln in einem größeren, aufregenderen und spannenderen. Über die Identifikation vereinigt man sich schlussendlich mit seinem Idol“, sagt Hemecker.

Und noch eine Facette spielt eine Rolle: Jeder liest gern spannende und interessante Erzählungen. Doch bei der Biografie kommt noch der Thrill des Echten dazu. Der Leser erwartet sich von dem Biografen, er werde ihm endlich verraten, wie das Leben des „Helden“ wirklich war. Die Forschung begreift die Biografie freilich anders: „Wie der Roman ist auch die Biografie eine Konstruktion. Sie besteht aus einer Fülle von Erzähltechniken, Erzählmustern, biografischen Versatzstücken und sinnstiftenden Elementen“, sagt Hemecker.

Wer glaubt, er könne nach der Lektüre einer Biografie den beschriebenen Menschen tatsächlich erfassen, gibt sich einer Illusion hin – jedenfalls, wenn es nach Sigmund Freud geht: „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen“, schrieb Freud dem Schriftsteller Arnold Zweig 1936, „geschreckt durch die Drohung, dass Sie mein Biograph werden wollen.“ Zweig hatte ihn zuvor gefragt, ob er über ihn eine Biografie schreiben dürfe. Freud, der selbst gern Biografien las, outete sich damals, als es darum ging, dass sein eigenes Leben beschrieben werden könnte, als großer Skeptiker gegenüber Biografien und – noch viel mehr – gegenüber Biografen: „Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, zur Heuchelei, zur Schönfärberei und zur Verhehlung seines Unverständnisses“, schreibt er Zweig.


Freuds Widerwille. Ausgerechnet der Begründer der Psychoanalyse, dem das Erforschen der Biografie seiner Patienten über alles ging, der das Eindringen in das Unbewusste und Offenlegen des Verdrängten zur Methode erklärt hatte, wollte selbst nicht, dass sein eigenes Leben an die Außenwelt getragen werde. Und Freuds Widerwillen manifestierte sich schon erstaunlich früh, wie aus einem Brief an seine Verlobte Martha Bernays hervorgeht, den er im Mai 1885 kurz vor seinem 29. Geburtstag schrieb. Dem jungen Arzt mangelte es keineswegs an Selbstbewusstsein, war er sich doch sicher, sein Leben werde Biografien füllen. „Ein Vorhaben habe ich (. . .) fast ausgeführt, welches eine Reihe von noch nicht geborenen, aber zum Unglück geborenen Leuten schwer empfinden wird. Da Du noch nicht erraten wirst, was für Leute ich meine, so verrate ich Dir's gleich: es sind meine Biographen. Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit vierzehn Jahren und Briefe, wissenschaftliche Exzerpte und Manuskripte meiner Arbeit vernichtet (. . .) Die Biographen sollen sich plagen, wir wollen's ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ,Entwicklung des Helden‘ recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden?“ Freuds Meinung über Biografen unterscheidet sich so gut wie gar nicht von der des englischen Gelehrten, Schriftstellers, Juristen und Kritikers Samuel Johnson (1709–1784), der am Anfang einer modernen Auffassung von Biografie steht. Wer über einen anderen schreibt, „ist entweder sein Freund oder sein Feind und will entweder sein Lob erhöhen oder seine Schande verstärken“, schrieb er 1759. Hingegen habe „derjenige, der über sich selbst spricht, keinen Anlass zur Unwahrheit oder Parteilichkeit, mit Ausnahme der Eigenliebe, von der alle sooft betrogen wurden . . .“, ist Johnson überzeugt und bricht damit für die Autobiografie eine Lanze, lange bevor dieser Begriff überhaupt verwendet wurde.

Eine optimistische These. Sprechen wir selbst über uns ehrlicher, als das andere tun? Wissenschaftler Hemecker hält das Gegenteil für wahrscheinlich: „Der Biograf ist eher der Objektivität verpflichtet als der Autobiograf, der sich je nach Situation ins rechte Licht rücken will. Etwa beim einander Kennenlernen oder beim Vorstellungsgespräch, aber natürlich auch in der gedruckten Autobiografie.“ Dennoch tragen viele ihrer Leser bewusst oder unbewusst den naiven Ansatz in sich: „Wer könnte über das Leben von Nelson Mandela oder Reinhold Messner besser Bescheid wissen als sie, die sie es selbst ge- und erlebt haben? Niemand!“ Und wenn der deutsche Musiker und Produzent Dieter Bohlen seine Memoiren „Nichts als die Wahrheit“ nannte, ist zumindest eines gewiss: Bohlen weiß, welcher Titel seine Fans zum Kauf des Buches bringt.

Weniger sicher ist, ob sie etwas über seine Person erfahren werden. Übrigens: Das Wort persona kommt aus dem Lateinischen und bezeichnet ursprünglich die Maske, mit der ein Charakter auf der Bühne dargestellt wird. Sie ist ein Hilfsmittel, deutet Züge an, typisiert sie. Das Antlitz dahinter bekommt der Zuschauer nie zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Prof. Wilhelm Hemecker
Salon

"Wir wollen Geschichte lebendig machen"

Vor allem in Krisenzeiten können Biografien Modelle »gelungenen« Lebens zeigen, sagt der Wissenschaftler Wilhelm Hemecker. Er leitet das Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, das nun seit zehn Jahren besteht.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.